Bertrand'sches Sehnen-Paradoxon

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Beispiel für einen Kreis mit einbeschriebenem gleichseitigen Dreieck. Die rote Sehne ist länger als die Dreiecksseiten, die blaue ist kürzer.
Beispiel für einen Kreis mit einbeschriebenem gleichseitigen Dreieck. Die rote Sehne ist länger als die Dreiecksseiten, die blaue ist kürzer.

Das Bertrand’sche Sehnen-Paradoxon wurde zuerst von Joseph Bertrand (1822-1900, französischer Mathematiker) in seinem Werk „Calcul des probabilités“ präsentiert. Es behandelt die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine auf einem Kreis zufällig gewählte Sehne länger ist als eine Kante eines im Kreis einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Sehnen zufällig zu verteilen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Das vermeintliche Paradoxon zeigt so anschaulich, dass Wahrscheinlichkeiten nicht eindeutig bestimmt sein müssen, wenn die Methode zur Erzeugung der Eingabe nicht eindeutig bestimmt ist.

Vier Methoden zur Bestimmung der Wahrscheinlichkeit

Methode 1: zufällige Endpunkte[1]

Da das Problem rotationssymmetrisch ist, sei o.B.d.A. ein Sehnen-Endpunkt [math] P [/math] fest. Weiterhin stimme ein Eckpunkt des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks mit [math] P [/math] überein. Ausgehend von der Tangente durch [math] P [/math] an den Kreis betrachte man den im Bogenmaß gemessenen Winkel [math] \Theta [/math] als gleichverteilte Zufallsvariable auf [math] (0, \pi)=(0°, 180°) [/math]. Wegen Symmetrie gilt nun:

Die Sehne ist länger als eine Dreiecksseite genau dann, wenn [math] \Theta \in \left(\frac{\pi}{3},\frac{2\pi}{3}\right) = (60°,120°) [/math].

Damit folgt für die gesuchte Wahrscheinlichkeit:

[math] p_1 = \frac{1}{\pi-0} \cdot \left( \frac{2\pi}{3} - \frac{\pi}{3} \right) = \frac{1}{3}. [/math]

Darstellung von Methode 1
Darstellung von Methode 1

Methode 2: zufälliger Radius[1]

Da das Problem rotationssymmetrisch ist, spielt die Richtung der Sehne keine Rolle, und sei daher o.B.d.A. senkrecht zur [math] x [/math]-Achse in einem Koordinatensystem. Weiterhin liege ein Eckpunkt des einbeschriebenen gleichseitigen Dreiecks auf der [math] x [/math]-Achse. Die zufällige Sehne ist nun eindeutig durch ihren Schnittpunkt [math] U [/math] mit der [math] x [/math]-Achse bestimmt. Da es lediglich auf Längenverhältnisse ankommt, können wir den Einheitskreis betrachten, sodass der Abstand der vertikalen Dreiecksseite zur [math] y [/math]-Achse genau [math] \frac{1}{2} [/math] beträgt. Nach Identifikation von [math] U [/math] mit dessen [math] x [/math]-Koordinate können wir [math] U [/math] als gleichverteilte Zufallsvariable auf [math] (-1, 1) [/math] annehmen. Es gilt nun:

Die Sehne ist länger als eine Dreiecksseite genau dann, wenn [math] -\frac{1}{2} \lt x \lt \frac{1}{2} [/math].

Damit folgt für die gesuchte Wahrscheinlichkeit:

[math] p_2 = \frac{1}{1-(-1)} \cdot \left( \frac{1}{2} - \left(-\frac{1}{2}\right) \right) = \frac{1}{2}. [/math]

Darstellung von Methode 2
Darstellung von Methode 2

Methode 3: zufälliger Sehnen-Mittelpunkt[1]

Es sei der Sehnen-Mittelpunkt [math] M [/math] gleichverteilt innerhalb der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe [math] \{(x,y) \in \mathbb{R}^2 \, | \, x^2 + y^2 \leq 1\} [/math] um den Ursprung. Dann steht die zufällige Sehne senkrecht zur Verbindungsgeraden von Kreismittelpunkt und [math] M [/math]. Es gilt nun:

Die Sehne ist länger als eine Dreiecksseite genau dann, wenn [math] M [/math] innerhalb des gestrichelten konzentrischen Kreises mit Radius [math] \frac{1}{2} [/math] liegt.

Damit folgt für die gesuchte Wahrscheinlichkeit:

[math] p_3 = \frac{1}{\pi\cdot1^2} \cdot \left( \pi \cdot \left(\frac{1}{2}\right)^2 - \pi \cdot 0^2 \right) = \frac{1}{4}. [/math]

Darstellung von Methode 3
Darstellung von Methode 3

Methode 4: zwei zufällige Punkte[2]

Da das Problem rotationssymmetrisch ist, sei ein Sehnen-Endpunkt [math] P [/math] auf dem Kreisrand fest, sodass dieser auf der [math] x [/math]-Achse eines Koordinatensystems liege. Im einbeschriebenen gleichseitigen Dreieck stimme wieder o.B.d.A. ein Eckpunkt mit [math] P [/math] überein. Der zweite Punkt, durch welchen die Sehne verläuft, sei gleichverteilt innerhalb des Einheitskreises. Dann gilt:

Die Sehne ist länger als eine Dreiecksseite genau dann, wenn der zweite Punkt innerhalb der blauen oder innerhalb der gelben Fläche liegt.

Die blaue Fläche ist mit der Seitenlänge [math] \sqrt{3} [/math] des Dreiecks gleich [math] \frac{3\sqrt{3}}{4} [/math]. Wegen Symmetrie sind die verbleibenden drei Kreissegmente gleich groß und die gelbe Fläche berechnet sich zu [math] \frac{1}{3} \cdot \left( \pi \cdot 1^2 - \frac{3\sqrt{3}}{4} \right) = \frac{\pi}{3} - \frac{\sqrt{3}}{4}. [/math]

Damit folgt für die gesuchte Wahrscheinlichkeit:

[math] p_4 = \frac{1}{\pi \cdot 1^2} \cdot \left( \frac{3\sqrt{3}}{4} + \frac{\pi}{3} - \frac{\sqrt{3}}{4} \right) = \frac{1}{3} + \frac{\sqrt{3}}{2\pi} \approx 0.609. [/math]

Darstellung von Methode 4
Darstellung von Methode 4

Numerische Vergleiche[1]

Die Unterschiede in der Verteilung der Sehnen mit den vier unterschiedlichen Methoden werden auch bei einer graphischen Darstellung deutlich. An dieser Stelle sind sowohl die Sehnen selbst als auch die Mittelpunkte der Sehnen dargestellt. Betrachtet man die Verteilung der Sehnen, so erscheinen Methode 2 und 4 in dieser Darstellung gleichmäßiger verteilt als Methode 1 und 3, da sich in Methode 1 die Sehnen vermehrt auf den Rand konzentrieren und in Methode 3 deutlich weniger Sehnen durch das Zentrum als durch den äußeren Bereich verlaufen.

Die Darstellung der Mittelpunkte bietet sich an, da Sehnen im Kreis durch ihren Mittelpunkt wohldefiniert sind. In dieser Darstellung erscheint nur Methode 3 gleichmäßig verteilt, bei allen anderen Methode treten die Mittelpunkte vermehrt im Zentrum des Kreises auf. Bei Methode 1 treten zusätzlich noch vermehrt Mittelpunkte am Rand auf.

Jaynes' Lösungsansatz für das Sehnen-Paradoxon[3]

Im Jahre 1973 beschreibt Edwin Jaynes (1922-1998, US-amerikanischer Physiker) eine Lösung für das Sehnen-Paradoxon. Er argumentiert, dass eine Lösung nicht von Skalierung und Verschiebung abhängig sein darf, da diese Aspekte nicht Teil der Problembeschreibung sind. Legen wir also einen beliebigen Kreis in eine der Darstellungen aus Numerische Vergleiche, so müsste die Verteilung im Kreis der Verteilung im ursprünglichen Kreis entsprechen.

Methode 3: Die Verteilung der Sehnen ist nicht invariant unter Skalierung und Verschiebung.
Methode 3: Die Verteilung der Sehnen ist nicht invariant unter Skalierung und Verschiebung.

Betrachten wir die Darstellung der Sehnen, so erfüllt nur Methode 2 Jaynes' Anforderungen. Er schlussfolgert hieraus, dass Methode 2 die richtige Lösung ist und die Methoden 1, 3 und 4 keine Lösung liefern.

Im Jahre 2015 argumentiert Alon Drory (israelischer Physiker), dass nach Jaynes' Anforderungen ebenfalls die anderen Methoden korrekt sind, da Jaynes' ursprüngliche Lösung auf der Darstellung der Sehnen als zwei Punkte auf dem Rand aufbaut. Dies ist aber auch die Methode, nach der in Methode 2 die Sehnen gewählt werden. Betrachten wir zum Beispiel stattdessen die Mittelpunkte der Sehnen, so erfüllt nur Methode 3 Jaynes' Anforderungen an eine Lösung.

Insgesamt basiert also auch Jaynes' Ansatz auf der Wahl der Methode und löst somit das vermeintliche Paradoxon nicht endgültig auf.

Siehe auch

Einzelnachweise

Autoren

  • Adrian Becker
  • Lennart Stöpler
  • Timo Dörzbach